Der Winter ist ein rechter Mann

… kernfest und auf die Dauer; sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an und scheut nicht süß noch sauer.
Das ist ein Text von Matthias Claudius. Im späten 18. Jahrhundert war er so eine Art Medienstar. Der gebürtige Holsteiner studierte in Jena Theologie und Jura, arbeitete in Kopenhagen als Dichter, Lyriker und Journalist, später als Redakteur in Hamburg und war Herausgeber des „Wandsbecker Bothen“, was ihm die Möglichkeit bot, seine Verse, Gedichte und anderes zu veröffentlichen. Er war verheiratet und hatte zwölf Kinder. Ein volles Dutzend! Die wollten essen und trinken, brauchten Kleidung und bekamen Schulbildung. Seinerzeit konnte ein Freier Journalist mit dichterischen und lyrischen Fähigkeiten den familiären Anforderungen einer Großfamilie scheinbar gerecht werden.

Aber wie bin ich auf genau diesen Zeitgenossen gekommen? Wollen Sie es wissen? Ganz einfach: Matthias Claudius hat am 15. August das Licht der Welt erblickt – genau wie mein Vater – und er ist am 21. Januar verstorben – am Geburtstag unseres Enkels – und ihm sind eindrucksvolle Texte aus der Feder geflossen.

Wie das oben erwähnte Lied vom Winter zum Beispiel und das später vertonte Gedicht Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen am Himmel hell und klar ist auch von ihm. Wem von uns wurde das nicht als Schlafliedchen vorgesungen oder wer hat es nicht seinen Kindern oder Enkeln als Einschlafhilfe präsentiert?

Wem kommt bei diesem Lied nicht die Lagerfeuerromantik vergangener Kinder- und Jugendjahre in großer oder kleiner Runde in den Sinn, wenn das Feuer anheimelnd knisterte und das Ambiente genau dem entsprach, was diesen Liedtext ausmacht?

Claudius hatte bereits 2015 seinen zweihundertsten Todestag und noch immer ist er in aller Munde. Sein Schlaflied hat einen Bekanntheitsgrad ähnlich wie White Christmas oder Lili Marleen. Wenn Sie gefragt werden, welches deutsche Gedicht das meistgedruckte ist, dann blamieren Sie sich nach allen Regeln der Kunst, wenn Sie auf Dichtkunst, Poesie oder Lyrik der Altmeister Goethe oder Schiller tippen. Nein, lassen Sie das! Es ist das „Abendlied“ von Matthias Claudius! Es ist und bleibt Baldrian und Sandmännchen vieler Generationen von Kindern und ist der Inbegriff für das Gefühl von Schmetterlingen im Bauch, wenn man als Teenager zu zweit die erste gemeinsame Frühlings- oder Sommernacht im Freien verbringt.

Was wäre, wenn Matthias Claudius in unserer Zeit lebte? Vielleicht textete er für Bruce Springsteen oder hätte den Beatles den einen oder anderen Reim zum Vertonen geschrieben. Ob er wohl mit Elvis die Fans gerockt hätte? Seiner Feder entstammten möglicherweise Welthits wie Pretty Woman, Strangers in the night oder Ohrwürmer wie La Paloma, Ein Stern, der deinen Namen trägt. Könnte auch sein, dass der Sound des Nordens genau sein Ding wäre, so wie ihn Santiano aus Schleswig-Holstein präsentiert. Schließlich stand auch seine Wiege im hohen Norden.

Und was wäre wohl, wenn Claudius zu Lebenszeiten noch auf Hoffmann von Fallersleben getroffen wäre? Auch der studierte Theologie und war Rebell und Romantiker zugleich. Hätten beide Männer beim Grog auf Helgoland gemeinsam das Lied der Deutschen geschrieben? Vielleicht aber auch Ein Männlein steht im Walde und Alle Vögel sind schon da. Hätten beide Männer Gemeinsames auf die Beine stellen können? Hätten Sie sich verstanden? Wären sie gemeinsam stark und berühmt geworden? Hätten Sie unsere Welt mit ihren Texten und ihren Ansichten revolutioniert? Wer kann das schon sagen?

Aber eigentlich habe ich doch nur aus dem Fenster in den tiefverschneiten Garten geschaut und mir ist das Lied von Matthias Claudius in den Sinn gekommen. Ein Lied, das man so schön hinterm Ofen singen kann, wie er es selbst treffend bezeichnet hat. Das fällt mir spontan ein, wenn ich aus der warmen Stube nach draußen gucke, der eiskalte Wind die Schneeflocken vor sich hertreibt und zu kleinen Bergen aufschichtet, die Vögel sich in kahlen Hecken dicht aneinander kuscheln und weder Hund noch Mensch – und ich schon gar nicht – ins Freie wollen.

Und hier der vollständige Text des Gedichtes:

Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer. Sein Fleisch fühlt sich wie Eisen an und scheut nicht süß noch sauer.
War je ein Mann gesund wie er? Er krankt und kränkelt nimmer. Er trotzt der Kälte wie ein Bär und schläft im kalten Zimmer.
Er zieht sein Hemd im Freien an und lässt‘s vorher nicht wärmen und spottet über Fluss im Zahn und Grimmen in Gedärmen.
Aus Blumen und aus Vogelsang weiß er sich nichts zu machen, hasst warmen Drang und warmen Klang und alle warmen Sachen.
Doch wenn die Füchse bellen sehr, wenn’s Holz im Ofen knittert und um den Ofen Knecht und Herr die Hände reibt und zittert.
Wenn Stein und Bein vor Frost zerbricht und Teich und Zehen krachen: Das klingt ihm gut, das hasst er nicht, dann will er tot sich lachen.
Sein Schloss von Eis liegt ganz hinaus beim Nordpol an dem Strande, doch hat er auch ein Sommerhaus im lieben Schweizerlande.
Da ist er denn bald dort, bald hier, gut Regiment zu führen und wenn er durchzieht, stehen wir und sehn ihn an und frieren.
Matthias Claudius (1740 – 1815)

18.01.2016