Es ist der 24. August, die großen Ferien sind vorbei und mit gepacktem Ranzen und vielen Ferienerlebnissen im Gepäck ging es wieder in die Schule. Eigentlich wie immer nach den Ferien – wie jedes Jahr. Doch diesmal war alles ganz anders. Nichts war mehr wie beim Ferienbeginn Mitte Juli. Eine bedrückende Stimmung lag über der Stadt. Auch über unserer Schule. Die Fröhlichkeit war weg, selbst bei den Jüngeren ist zu merken, dass was nicht stimmt – bei den Älteren sowieso.
Das geht nun schon seit zehn Tagen so. Ausweglosigkeit, Schockstarre, Traurigkeit, Ratlosigkeit, totale Hoffnungslosigkeit – Menschen sind todunglücklich und verzweifelt.
Ab dem 13. August 1961 war in Berlin alles ganz anders. Die Stadt wurde durch eine Mauer geteilt. Auf einmal war nichts wie am Tag zuvor und über lange Zeit wird’s auch nicht wieder wie vorher. Für keinen Berliner. Auch für viele Schulkinder nicht.
Auf unserem Schulhof war es ungewöhnlich ruhig an diesem Donnerstag und viel leerer als sonst am ersten Tag nach Ferienende. Das Lachen, das Lärmen und das ausgelassen- übermütige Rumtoben fehlten genauso, wie die gestrengen Stimmen der Lehrer, die uns sonst immer zur Ruhe mahnen mussten. Auf dem Weg in die Klassenzimmer war’s ruhig und irgendwie beklommen, viel stiller als gewöhnlich, in der Klasse auch. Niemand quietschte mit Kreide an der Tafel, keiner schurrte mit seinem Stuhl über den alten Holzboden. Alles war eben anders – keine der sonst üblichen Störgeräusche, eher bedrückende Ruhe.
Als unser Klassenlehrer Ferdinand Lässich die Klasse betrat, standen wir geräuschlos auf. Er bedeutete uns mit einer Geste, dass wir uns setzen sollen. Er tat es auch, schlug das Klassenbuch auf und fragte die Anwesenheit ab – eigentlich wie immer, aber trotzdem ganz anders.
„Gerda Albers, Marion Becker, Marion Herrmann, Dieter Müller, Manfred Müller, Christian Riedel, Dieter Schiepe, Christine Werner, Hans-Eberhard Woltersdorf“ und alle anderen der insgesamt 28 Schülerinnen und Schüler.
Zwanzigmal „hier“, achtmal keine Antwort. Die Mitschüler aus Falkensee, Dallgow, Staaken und Elstal waren nicht da. Die kommen auch nicht mehr, sie sind weg, einfach weg.
Auch Marion ist nicht da. Aus meinen Ferien auf der Nordseeinsel Spiekeroog habe ich ihr eine Karte nach Dallgow geschrieben. Marion ist meine beste Freundin und Tischnachbarin. Bis zum Ferienbeginn – jetzt nicht mehr.
Herr Lässich klappte das Buch zu, stand auf und verließ mit Tränen in den Augen hinter seiner dicken Brille die Klasse.
Wir blieben ganz ruhig sitzen – mucksmäuschenstill. Bis zum Klingeln der Pausenglocke. Dann gingen wir auf den Schulhof, wo auch die anderen Kinder waren und die Lehrer. Die wenigen Lehrer und Lehrerinnen standen in kleinen Grüppchen beieinander und man sah ihnen die Fassungslosigkeit an.
Um elf Uhr wurden wir nach Hause geschickt. Wegen dringender Lehrerkonferenz hieß es und so erzählte ich es auch meiner Mutter. Ebenfalls erzählte ich ihr, dass meine Freundin Marion nicht in der Schule war und Dieter Schiepe, der kleine Knirps auch nicht und viele andere fehlten – nun wohl für immer. Ich war traurig, sehr traurig.
Es folgten viele Lehrerkonferenzen und mehrere Elternabende zwecks Information. Aber grundsätzlich ging der Schulbetrieb weiter. Weniger Lehrpersonal und weniger Schüler. Daraus wurden weniger Klassen und unsere hieß nicht mehr 5 C, sondern 5 B.
Irgendwann war auch in unserer Schule der Alltag zurück. Es kamen neue Lehrer, neue Schüler, neue Klassenkameraden.
11.08.2018
Zum Thema 13. August habe ich auch eine zweite Erinnerung aufgeschrieben. Hier ist der direkte Link
Das Foto entstammt der aktuellen Website der Klosterfeld-Grundschule in Spandau.