Plötzlich ist Ursel alleine, also richtig alleine. Eigentlich ist sie schon eine ganze Weile ohne ihn. Im letzten Jahr war er oft im Krankenhaus, kam aber immer wieder nach Hause. Zwar nur für ein paar Tage, aber er kam wieder heim. Kein Abend mit Kollegen oder im Verein, in der Kneipe, kein Zoff, keine Meinungsverschiedenheiten, kein Türenknallen, keine Animositäten. Krankheit ist es diesmal. Plötzlich war sie da und sie blieb – bei ihm, bei ihr – ein Zurückkommen zum Alltagstrott war unmöglich.
Er ist weg und kommt nicht wieder. Weg für immer, sie ist alleine. Sie ist Witwe und Knall auf Fall ist alles ganz anders. Sie trauert um ihn. Die Kinder, Freunde, Bekannte, Nachbarn trösten sie – versuchen es zumindest. Klappt mal mehr, mal weniger. Abends und nachts ist sie ohne ihn und weiß nicht, damit umzugehen.
Was soll sie bloß mit ihrem Schmerz und dem Alleinsein machen? Im Trauer-Café trifft sie auf Gleichgesinnte, die tun ihr aber nicht gut. In der Kirchengemeinde will man mit ihr und anderen Witwen basteln, häkeln und singen – Zeit totschlagen. Aber nichts hilft gegen ihre Trauer.
Richtig wohl fühlt sie sich aber nur bei Martin und Anna, da kann sie reden wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Sie erzählt von ihrer Ehe, von den Höhen und Tiefen, von glücklichen und weniger glücklichen Zeiten, den Kindern, von dreißig gemeinsamen Jahren. Die beiden hören ihr aufmerksam zu, reden mit ihr, raten ihr zu diesem und jenem, zu Dingen die sie tun soll oder besser nicht.
Seither sind etliche Jahre vergangen. Ein holpriger Weg mit vielen Stolpersteinen liegt hinter ihr. Doch sie ist wieder glücklich und zufrieden und nur das zählt. Sie hat sich ihr neues Leben schwer erarbeitet, neue Menschen getroffen, mit denen sie reden, verreisen, wandern, lachen und weinen kann. Bis aufs Kuscheln fehlt es ihr an nichts, sagt sie. Ein Bild von ihrem Mann steht auf ihrem Nachttisch. Ihm erzählt sie vorm Einschlafen von ihrem neuen Leben, ihren Erlebnissen, den gewonnenen Freunden und wenn sie verreist, begleitet sie sein Foto. Sie hat sich auf ihre Weise freigeschwommen. In ihrem ganz eigenen und selbstbestimmten Leben ist sie an Land gegangen und Anker geworfen und Halt gefunden.
Auch Inges Ehe wurde ziemlich abrupt beendet. Ihr Mann starb an einem wundervollen Frühlingstag bei schönstem Sonnenschein und einem Wetter wie Samt und Seide. Der Mai war gekommen – er war gegangen. Die Kinder fingen sie auf, erzählte sie. Aber geht das überhaupt? Kinder sind doch auch traurig, wenn der Vater so Knall auf Fall und auf Nimmerwiedersehen weg ist vom Fenster.
Freunde, Bekannte, Nachbarn stehen ihr zur Seite, sie hat viel Glück, denn sie kennt Hunz und Kunz, besucht sie einfach und muss sich mit dem Alleinsein in den eigenen vier Wänden nicht wirklich auseinandersetzen. Meist kommt sie erst abends von ihren Unternehmungen heim, fällt hundemüde ins Bett und am Morgen ist sie schon wieder auf Achse. Wenn sie mal nicht unterwegs ist, kommen die Kinder oder sie fährt zu ihnen und wenn gar nichts geht – telefonieren geht immer und irgendwer hat Zeit für sie.
Sie erzählt, dass sie viel von Deutschland und der Welt gesehen hat. Lag am Beruf ihres Mannes, sie lebten mal hier und mal dort, auch eine Weile im Ausland. So richtig sesshaft war sie mit ihm erst in den letzten Jahren, nach seiner Pensionierung, als die Kinder längst aus dem Haus und ihre Zelte woanders aufgestellt haben.
Auch Jahre nach seinem Tod ihres Mannes ist sie noch immer ruhe- und rastlos, steckt so in ihr drin, sagt sie – Ruhezeiten und langes Verweilen kennt sie nicht.
Bei Ellen hingegen war alles ganz anders. Ihre Ehe war ohnehin nur noch eine Farce, erzählt sie. Beide spielten seit langem nur noch Rollen, für die Kinder, Freunde und Bekannte, für die Öffentlichkeit: eigentlich führte jeder sein eigenes Leben und das schon jahrelang. Jeder hatte sein eigenes Schlafzimmer. Jeder dachte seine Gedanken.
Nun beendete er die Ehe, zog einen Schlussstrich – ziemlich abrupt und fast aus heiterem Himmel. Damit hat sie nicht gerechnet. Vor nicht langer Zeit begann sein Ruhestand. Sie wollte noch nicht zuhause bleiben – noch nicht, beide wollten noch – ja, was wollten beide eigentlich noch? Ist jetzt sowieso egal – nun ist er weg.
Plötzlich hat er sie nun doch noch verlassen, ist einfach nicht mehr da. Kurze Krankheit, erfolgloser Kampf gegen den Tod, dann das Sterben. Sie und die Kinder waren an seiner Seite.
Er war der unterhaltsame Entertainer, lustig, intelligent und in seiner Gesellschaft fühlten sich alle wohl, beteuert sie. Denen fehlt er, bei denen hat eine Lücke hinterlassen. Für viele war er einmalig – eben ein Unikat. Und, fehlt er ihr? Sie zuckt mit den Schultern, ihr Gesicht ist leer, ihre Augen sind traurig.
Alleinsein nach fast vier Jahrzehnten Ehe – bestimmt nicht einfach. Da muss man reden, da muss man sich mitteilen, da muss man heulen können und dürfen. Hat sie gemacht, sich ausgekotzt, sich vieles von der Seele geredet und neuen Anlauf genommen.
Vielleicht hat sie auf dem Weg in ein neues Leben den gesunden Egoismus für sich entdeckt, hat sich darauf eingeschossen und mittlerweile gefällt sie sich in ihrer neuen Rolle bestens. Sie genießt das Freisein, ihr selbstbestimmtes Leben.
Alle alten Zelte hat sie abgebrochen, die jahrzehntelang ihr Leben mit ihrem Mann und den mittlerweile erwachsenen Kindern dominierten. Haus und Garten sind passé – ein neuer Lebensabschnitt in neuen vier Wänden hat begonnen. Ihr Leben ist ein anderes. Andere Aufgaben, eine neue Ausrichtung, andere Menschen, andere Ziele, selbstbestimmt und unabhängig.
Drei reife, alleingelassene Frauen mit neuen Zielen auf neuen Wegen in ein noch unbekanntes Leben mit mal mehr und mal weniger Erinnerungen an das alte, mit Trauer und einer großen Portion Selbstbewusstsein und Mut im Herzen.
22.09.2018