Heute gibt’s viel zu gedenken, zu begehen, zu feiern – sagt der Radiomann und verweist auf die gleich folgenden Nachrichten. Vor hundert Jahren war der erste Weltkrieg vorbei, vor achtzig Jahren jagten Adolfs Schergen Menschen jüdischen Glaubens zu Tode und vor neunundzwanzig Jahren fiel die Berliner Mauer.
An solch einem überaus geschichtsträchtigen Tag gehe ich einkaufen, und zwar zu meinem Lieblingsdiscounter.
Bei dem ist es heute besonders voll, viele haben die Idee, ihren Wochenendeinkauf zu erledigen. Gott und die Welt sind heute auf Achse. Multikulti lässt freundlich grüßen!
Beim Gemüse fällt mir ein kleiner, zierlicher, alter Mann auf. Irgendwie sieht der ganz grau aus – im Gesicht, seine Haare, seine Kleidung und vor allem sein Gesichtsausdruck – rundum mausgrau. Vielleicht ist er einsam und allein und würde sich über ein Lächeln oder eine kleine Unterhaltung sehr freuen.
Vor einem Jahrhundert gab es garantiert nicht dieses Gemüseangebot, solche Läden schon gar nicht, geschweige denn, so viel Leckeres im Angebot. Wie auch – nach einem verlorenen Krieg, Tod und Elend!
Rappelvoll ist es. Menschen aller Altersklassen sind im Geschäft und kurven mit dem Wagen durch die Gänge. Viele sind fremdländisch und haben andere Hautfarben. Wo die wohl alle ursprünglich beheimatet sind, geht’s mir durch den Kopf.
Und wieder fällt mir der graue Alte auf. Wie dünn der ist, der wiegt ja kaum was. Zur Pogromnacht 1938 war er vermutlich noch nicht auf der Welt, aber bestimmt bald danach.
Ich greife zum spanischen Paprika, rot, gelb, orange – schade, grün ist nicht vorhanden – macht nichts, dafür Zucchini, Gurken, Radieschen, viele Tomatensorten – einfach alles, was das Herz begehrt.
Der unscheinbare Graue ist hinter mir, er wirkt zerbrechlich und irgendwie schüchtern. Wollen Sie auch hier ran? frage ich ihn, mache ein wenig Platz und schon hat er ein Bund Radieschen in der Hand. Er wühlt die ganze Stiege um und dumm, dreht jedes Bund dreimal hin und her, beleuchtet es von allen Seiten, bevor er sich nach einer gefühlten halben Ewigkeit für eines entscheidet. Mit den Frühlingszwiebeln macht er es ebenso.
Welche Tomaten soll ich heute nehmen? Spanische – na klar, große, kleine oder…
Plötzlich halte ich inne, denn jemand zischelt ziemlich böse der hübschen Dunkelhäutigen mit den zwei goldigen Kindern zu, dass sie ihre schwarzen Finger von den Tomaten nehmen soll!
Wie bitte? Was ist hier denn los? Diese Boshaftigkeit kam aus dem Mund des unscheinbaren grauen Hänflings!
Ich kann’s kaum glauben, dass der sowas sagt! Hey, lassen Sie die Frau zufrieden! blaffe ich ihn an, aber er pöbelt weiter. Irgendwas, aber ich verstehe es nicht. Die Dunkelhäutige guckt total verschreckt, zieht ihre beiden Kinder näher an sich ran unf stellt ihren Einkaufswagen zwischen sich, die Kinder und den vermeintlichen Meckerkopp. Sie versteht jedes Wort, was er sagt und die Kinder scheinbar auch.
Das glaube ich jetzt nicht! Heute, am achtzigsten Jahrestag, an dem die Fremdenfeindlichkeit damals in Hitlerdeutschland ihren bisherigen Höhepunkt erreichte!
Und dann noch hier, in der Idylle der gutbürgerlichen Wohngegend, quasi jwd und weit weg von der Stadt…!
Noch immer brabbelt er pöbelnd drauf los und immer noch in Richtung dieser Frau mit den Kindern. Hören Sie auf und lassen Sie die Frau in Ruhe – sonst gehe ich zur Marktleitung, die sollen dann die Polizei holen! mecker ich ihn an. Er schickt sich an, weiterzugehen und greift nach seinem Einkaufswagen. Im Weitergehen schiebt er ihn absichtlich dem kleinen Mädchen ins Kreuz. Dann ist er aus meinem Blickfeld verschwunden.
War übrigens das erste Mal, dass ich sowas live erlebt habe. Das macht mich betroffen und der Begriff fremdschämen kommt mir in den Sinn. Solche – und natürlich viel schlimmere Begebenheiten – kannte ich bisher nur aus den Medien.
Später, auf dem Parkplatz, sehe ich ihn – den Alten mit den braunen Gedanken – nochmals. In seinem Einkaufswagen liegen Radieschen, Kartoffeln ein bisschen Mett, Butter, Scheibenbrot, Milch, Eier und eine Tafel Schokolade – eigentlich alles ganz normal und wie beim liebenswerten Opa von nebenan.
Wie schlimm – den Typen habe ich total falsch eingeordnet. Keineswegs ist er das graue, schüchterne Kerlchen. Zwar ist seine Kleidung grau, aber was sich oberhalb des Mantelkragens farblich abspielt, ist offensichtlich knallbraun.
Vielleicht hätte ich ihn besser einschätzen können, hätte er einen kleinen Schnäuzer unter der Nase, oder eine Schmalztolle auf dem Kopf. Aber möglicherweise wäre mir dann auch nur Alfred Tetzlaff eingefallen….
09.11.2018
Illustration: amnesty.de