Kommt er oder kommt er nicht?

Diese Frage war eine typische meiner Eltern für die Planung und das gute Gelingen eines Heiligabends mit Weihnachtsmann. Brauchbare Vertreter dieser Zunft waren auch früher schon sehr begehrt und nicht viele waren auf dem Markt vorhanden. Drum musste man rechtzeitig einen an Land ziehen, den man für diesen Job einsetzen konnte und der vor allem verlässlich war.

Oma Elses Ehemann Otto war genau der Richtige, der mit weißem Bart, rotem Mantel, Jutesack und Rute verkleidet, diesen Job übernehmen konnte. Seine Statur war groß und kompakt, seine Stimme tief und kräftig, ein wenig furchteinflößend und wenn der mit der Rute herumfuchtelte, dann hatten nicht nur Kinder Respekt von ihm.

Nur ein winziges Problem gab es mit Otto: Er musste Heiligabend meist bis zum frühen Nachmittag arbeiten und danach führte ihn sein Heimweg an der „Kellerkneipe“ vorbei und die lockte mit frisch gezapftem Bier und gut gekühltem Korn.

Diese Destille war gut besucht von Leuten, die gerade an solch einem Tag wie Heiligabend Geselligkeit und Ablenkung suchten. Die einen eben bevor der familiäre Trubel losging und andere, weil sie einsam waren. Etliche alleinstehende Damen unterschiedlichsten Alters gehörten zum lebenden Inventar in dieser Kneipe und um die kümmerte sich Otto liebend gerne.

Otto war dort bekannt wie ein bunter Hund, ein Tänzer vor dem Herrn, der außerdem Seemannslieder wie Hans Albers singen konnte und selbst Bruce Low und der an der Wand hängende Pferdehalfter bereitete ihm musikalisch absolut keine Mühe. Da war Otto dann so richtig in seinem Element und vergaß Zeit und Raum.

Als wir nach 16 Uhr auf dem Rückweg vom Gottesdienst an der Kneipe vorbeikamen, stand die Tür offen und Zigarettenrauchschwaden bahnten sich ihren Weg nach draußen. Die ausgelassene Stimmung war nicht zu überhören und Otto auch nicht.

Stirnrunzelnd sahen sich meine Eltern an und sie ahnten, dass es ein Heiligabend ohne Besuch vom Weihnachtsmann werden könnte.

Doch der Abend ist noch lang und Oma Else kurzentschlossen. Sie wusste selbstverständlich, wo sich ihr Göttergatte aufhielt. Ohne lange zu zögern zog sie Stiefel, Mantel und Handschuhe an, stapfte durch den Schnee direkt in die Kneipe und bugsierte ihren ziemlich angetüterten Otto an die frische Luft. Dann drehte sie gemeinsam mit ihm bei dem eiskalten Wetter ein paar Runden im Schnee um den Häuserblock, bis er wieder den Status von ungefähr 14 Uhr erreicht hatte.

Mittlerweile stieg bei uns die Spannung auf Weihnachtszimmer und Geschenke ins unermessliche und als mein Vater dann endlich in Vertretung des Christkindes das Glöckchen läutete, traten wir ins Zimmer. Die Kerzen am Baum brannten, es duftete nach Tanne und Bratapfel, ein großer bunter Teller zierte den Tisch und ganz viele Pakete und Päckchen lagen unterm Baum.

Weihnachtslieder wurden gesungen und am lautesten von denen, die weder text- noch melodiesicher waren. Opa Ferdinand liebte Marschmusik und konnte im Handumdrehen alle aus dem Takt bringen, wenn er „Der Christbaum ist der schönste Baum, den wir auf Erden kennen…“ in Richtung „Leichte Kavallerie“ intonierte. Tante Dickchen bemühte sich aus voller Brust mit ihrer glockenhellen Stimme das Schnarchen von Opa Franz und das Jaulen von Dackel Hermann zu übertönen.

In den Gesangspausen trug Tante Hilde das Gedicht „Markt und Straßen sind verlassen, still erleuchtet jedes Haus“ auf sächsisch vor und bot sich an, danach auch noch die Weihnachtsgeschichte vorzulesen.

Zwischendurch schleppte mein Papa zwei große und randvolle Wassereimer ins Zimmer und stellte sie rechts und links neben den Weihnachtsbaum. Ohne die ging nichts – er hatte lediglich vergessen, sie rechtzeitig reinzutragen. Sie dienten zur Prophylaxe, falls der Baum mal Feuer fing. Aber nun war alles okay, sie standen schließlich unübersehbar vor den Geschenkepaketen und alles war in bester Ordnung!

„…sinnend geh ich durch die Gassen, alles sieht so festlich aus.“ Jäh wurde Hilde durch lautes Türklingeln und kräftiges Klopfen beim Vortragen des Gedichtes unterbrochen.

Das war der Weihnachtsmann, der nach braven Kindern fragte und einen Heidenlärm machte. Im Schlepptau befand sich Oma Else, die sich fürs Zuspätkommen entschuldigte. Der Weihnachtsmann wollte das Übliche wissen – eben wie jedes Jahr. Ihn umwehte eine ziemliche Fahne und auch schien er etwas wackelig auf den Beinen zu sein. Dank Oma Elses Hilfe ließ er sich sicherheitshalber aufs Sofa plumpsen. Cousin Fredi und ich trugen schüchtern unsere auswendig gelernten Gedichte vor und vor lauter Aufregung bemerkten wir gar nicht, dass der alte Herr mit Bart, Mantel und Rute längst eingeschlafen war.

Mama Lena erklärte uns, dass der Weihnachtsmann total müde ist, denn er macht einen echt schweren Job. Hierhin muss er und dahin, überall wird er erwartet und da kann man in seinem Alter schon mal vor lauter Erschöpfung einschlafen – manchmal eben auch mitten bei der Arbeit.

Wir durften Mama in der Küche beim Würstchenwarmmachen helfen und als wir den Tisch deckten, war der Weihnachtsmann verschwunden. Wohin, wussten wir nicht, aber das war uns auch ziemlich piepenhagen. Gefreut hat es uns aber schon, dass er nicht wieder mit seinen vielen Fragen, ob wir denn auch immer artig und lieb waren, genervt hat.

Trotzdem, irgendwas fand ich an diesem Heiligabend komisch am Weihnachtsmann. Warum hat der eigentlich mit Oma Else getuschelt und warum hat sie ihn als alten Suffkopp bezeichnet?