Oma Else hatte schon so ihre Eigenarten. Manche waren sehr liebenswert, andere einfach nur Tradition, oder entsprangen ländlichem Aberglaube, der seit Generationen durch die Köpfe der Menschen waberte.
Oma Else war fest davon überzeugt, dass man bei Gewitter nicht essen sollte, weil sonst der Blitz einschlägt.
Der Aufenthalt bei Blitz und Donner auf dem Friedhof sollte unter allen Umständen vermieden werden. Sollte das aber – aus welchen Gründen auch immer – unumgänglich sein, auf gar keinen Fall weder essen noch pupsen, das stimmt die Toten böse und macht sie unberechenbar.
Eine Braut sollte sich von ihrem Bräutigam keineswegs bei Gewitter küssen lassen, weil das Unglück bringt und falls noch Regen hinzukommt, könne man die Ehe gleich wieder annullieren lassen. Soviel Regentropfen bei der Trauung, soviel Tränen während der Ehe und davon war sie hundertprozentig überzeugt!
Am gruseligsten war allerdings immer ihre Interpretation zum nächtlichen Schrei eines Käuzchens. Wenn man den nämlich hört, stirbt jemand in der nächsten Umgebung, sagt sie.
„Alles Spökenkram“ pflegte Mama Lena dann zu sagen. Die war nämlich ein geborenes Stadtkind und Stadtkinder glauben nun mal nicht an solchen Unsinn. Als die olle Frau Müller irgendwann an Altersschwäche mit 95 Jahren das Zeitliche segnete, hat in der Nacht zuvor auch das Käuzchen gerufen, behauptete Oma Else steif und fest.
Aber was soll das Käuzchen denn sonst machen, erläuterte mein Vater immer. Ein Kauz ist nun mal ein Raubvogel und der jagt seine Beute natürlich nachts, genau wie der Uhu und die Eule – die sind eben alle eine Mischpoke. Selbstverständlich macht der Kauz auf Beutezug dann auch schon mal den Schnabel auf und schreit sein bekanntes Kuwitt-Kuwitt hinaus.
Oma Else hingegen hört kein kuwitt-kuwitt, sondern ein beharrliches „komm-mit- komm-mit“, was den kleinen nächtlichen Rufer wesentlich bedrohlicher erscheinen lässt. Ihrer Meinung nach hat der gefiederte Bursche dann immer schon irgendjemand auf dem Kieker, dessen Zeit sozusagen gekommen ist, wie sie es geheimnisvoll ausdrückte. Drum ist der Kauz der Gehilfe des Sensenmannes, also bei Gevatter Tod in Festanstellung.
Jede Menge Geschichten konnte sie glaubhaft zum Verhalten irgendwelcher Tiere und Naturereignisse zwischen Himmel und Erde berichten. Bei manchen standen mir die Nackenhaare zu Berge und meine Eltern mussten sich oftmals echt Mühe geben, damit ich diesen Spökenkram wieder aus dem Kopf bekomme.
An einem Sonntagmorgen – es war noch total dunkel – klingelte es Sturm an der Wohnungstür, Rufe waren zu hören, das Klopfen war unangenehm laut und weiter schlafen unmöglich. Papa schlurfte im gestreiften Schlafanzug zur Tür und stand vor Oma Else. Aufgeregt fuchtelte sie mit den Armen herum und ihre Stimme war mehr als aufgeregt: „Ist bei euch alles in Ordnung und seid ihr gesund und munter? Wie geht’s denn der Kleinen?“ und schon stand sie an meinem Bett, rüttelte und schüttelte so lange an mir herum, bis ich vollends wach war.
Was soll das Theater, fragten wir sie und sie antwortete, dass sie vom Schreien des Käuzchens geweckt wurde und nun wollte sie mal sehen, ob bei uns alles okay ist, denn das Käuzchen schrie so oft und so merkwürdig laut…….!
Ja, na klar, siehst du doch, hier ist alles in bester Ordnung, sagte Papa Karl ärgerlich und schob Oma Else ziemlich unsanft wieder zur Tür. Geh mal noch ein bisschen an der Matratze horchen und dann trinken wir nachher zusammen einen Kaffee! Grüß Otto von uns und dann bis dann!
Überzeugt war Oma Else nicht, aber sie zog brabbelnd ab, Papa schloss die Tür und alle krabbelten zurück in ihre Betten.
Als ich Stunden später wach wurde, hatte Mama bereits den Frühstückstisch gedeckt. Eier, Marmelade, Kakao, Milch, Butter, Brot und Opa Ferdinands Haferflockensuppe war auch schon fertig. Alles war da, alles stand auf dem Tisch und wir wollten gerade anfangen, als Papa nach Opa Ferdinand fragte. Mama und ich hatten ihn noch nicht gesehen und auch nicht gehört.
Papa klopfte an Opas Tür. Keine Antwort. Papa klopfte erneut. Vielleicht ist er schon unterwegs zum Friedhof oder zu Opa Franz in den Garten – macht er ja manchmal. Nee, seine Schuhe standen hier, seine Mütze und sein Mantel hingen an der Garderobe. Also klopfte Papa abermals an die Tür und rief mehrmals seinen Namen.
Dann öffnete er vorsichtig die Tür einen Spalt und sah Opa im Bett liegen.
Ganz friedlich lag er da und schlief.
Papa rief leise „Opa! Wir wollen frühstücken. Kommst du auch?“
Opa kam nicht mehr frühstücken – niemals mehr mit uns. Er war für immer eingeschlafen.
Dann war’s ja vermutlich doch das Käuzchen, dass „komm-mit, komm-mit“ gerufen und Oma Else mal wieder recht behalten hatte.