Ostern ist wie Weihnachten – nur in hellgrün

Papa Karl hat sich immer ganz besonders auf Ostern gefreut. Niemand sonst in der Familie konnte so konzentriert, systematisch und mit Hingabe Eier suchen – sowohl im Innen- als auch im Außenbereich. Akribisch entwarf er Wochen im Voraus einen präzisen Lageplan aller im Wohnzimmer befindlichen Möbel. Diese Skizze enthielt selbstverständlich sämtliche Tisch-, Stuhl- und Schrankbeine, Höhen- und Breitenabmessungen, freie Flächen, Ecken und was sonst noch wichtig war.

Für den Garten traf er ähnliche Vorbereitungen und berücksichtigte bei seinen Planungen auch alle möglichen Wettervarianten, denn Ostern ist nämlich von Regen über Schnee und Hitze alles machbar.

Diese Pingeligkeit hätte jeden römischen Feldherrn bis in die Haarspitzen zutiefst begeistert – die Mitglieder unserer häuslichen Wohngemeinschaft allerdings überhaupt nicht!

Wenn alles akkurat vermessen war, stellte Papa zunächst fest, dass sich seit dem letzten Osterfest nichts verändert hat – jedenfalls nicht in der Wohnung. Weder sind die Wände auseinander- noch zusammengerückt, die Sitzgelegenheiten stehen auch nicht auf anderen Füßen und selbst die Ecken befinden sich auch nach 365 Tagen an gleicher Stelle.

Wenn er das zu seiner Zufriedenheit alles durchgescheckt hatte, holte Papa Karl eine riesengroße Kiste vom Hängeboden. „Osterdekoration“ war mit grüner Farbe draufgepinselt. Drinnen befanden sich Nester aus Holzwolle, kleine, große, gelbe, grüne, blaue Holzkörbchen aus Hobelspänen und jede Menge anderer Klimbim – selbstverständlich für drinnen und draußen. Voll begeistert packte er den Inhalt aus und baute alles auf dem Wohnzimmertisch auf. Auf dem lag eine akkurat gestärkte und gebügelte weiße Tischdecke mit winzigen Blumenstickereien. Hat Oma Auguste gestickt. Die hat immer gestickt. Handarbeiten war genau ihr Ding. „Muss das sein, Karl?“ fragt Mama Lena.

„Bestandsaufnahme. Mal gucken, was fehlt“, antwortet Papa.

Nach Beendigung der Inspektion blieb die Kiste zunächst im Wohnzimmer mitten im Weg stehen, dann unter den Tisch geschoben. Dort verweilte sie bis Karfreitag und störte beim Staubsaugen, beim Füße-unter-den-Tisch-strecken und interessant fand sie nur Hermann, der übergewichtige Dackel von Tante Dickchen. Am liebsten hätte der sie in Einzelteile zerlegt, aber da spielte sein Gebiss natürlich nicht mit und anpinkeln kam ihm bislang noch nicht in den Sinn.

Hefezopf und Klötenköm

Bis zu den Feiertagen gab es viel zu tun. Die Hühner von Opa Franz legten Sonderschichten bei der Eierproduktion ein, denn ohne Eier geht an Ostern nichts! Oma Else und Mama Lena werkelten eifrig in der Küche. Eier ausblasen, Eier färben, Eier hartkochen, Eier in den Kuchen rühren, Eier zu Klötenköm verarbeiten und was sonst noch so alles mit den ovalen Dingern angestellt werden konnte, wurde gemacht. Opa und Papa waren in jeder freien Minute im Garten und in der Werkstatt zugange – wie immer, wenn Frühling und Ostern in Sicht waren.

In Sicht war aber auch die liebe Verwandtschaft, Bekannte und Freunde ebenso. Die hatten uns an Feiertagen immer im Visier. Das Besuchsprogramm erstreckte sich hauptsächlich von Karfreitag bis Ostermontag – dafür aber intensiv und unabhängig vom Wetter. Eiersuchen im Freien, Kaffee und Kuchen im Haus oder Hermanns Kläfferei zwischen Tulpen und Narzissen – bei uns war immer für jeden was dabei! Freitag und Sonnabend standen die auf der Matte, die an den „richtigen“ Feiertagen bereits woanders eingeladen waren und die nach dem Fest kackfrech behaupteten, dass Festtage auch preiswert gestaltet werden können. Kein Kunststück, wenn man sich überall woanders durchfuttert, nur nicht zuhause!

Zu dieser Spezies gehörten auch Tante Hedwig, Onkel Werner und ihr Junior namens Jürgen. Jürgen hatte eklige Pickel im Gesicht, abgeknabberte Fingernägel und wollte später mal Ingenieur werden. Er baute alles auseinander, was ihm in die Finger geriet, ohne es jemals wieder zusammenzusetzen – genaugenommen zerlegte er nur und machte alles kaputt!

Tante Hedwig trug immer eine schwarze Brille, weil sie angeblich kaum was sehen konnte. Trotzdem erwischte sie immer das größte Stück Kuchen, die dickste Bulette, die knusprigste Scheibe Schweinebraten und das Schnapsglas mit dem meisten Eierlikör!

Onkel Werner war ein Siemens-Indianer wie er im Buche steht und der Erfinder der Klugscheißerei. Er kannte und konnte alles, er wusste und machte alles besser als andere und war zutiefst davon überzeugt, dass die Firma Siemens nur durch ihn, sein Wissen und Können weltweit so enorm erfolgreich war.

Irgendwann überraschten uns Onkel Hans und Tante Bertha mit ihrem Besuch. Hans ist selbstständiger Schuhmachermeister und kleiner Bruder von Opa Franz und lebt mit seiner Frau Bertha und Tochter Hilde in Brühl bei Köln.

Das Fräulein Tochter ist schon weit über zwanzig, ein Mauerblümchen und hatte keinen Bock auf verreisen und auf Berlin schon gar nicht. Somit standen die beiden Senioren alleine mit ihrem kleinen schwarzen Köfferchen plötzlich und unerwartet vor der Türe.

Onkel Hans war irgendwie ein großer Junge, fröhlich und albern und manchmal verschmitzt wie Heinz Rühmann.

Tante Bertha – Hauswirtschaftsmeisterin in einem Mädchen-aus-gutem-Hause-Pensionat – hat die Weisheiten des Freiherrn Knigge mit Esslöffeln gefressen, hielt sehr auf Etikette, tadellose Kleidung und gute Manieren. Lachen und Frohsinn war nicht ihr Ding.

Beide Anverwandte wollten mindestens eine Woche bleiben, mit uns Ostern feiern und Berlin angucken, denn die Mauer kennen sie schließlich nur aus dem Fernsehen.

Tante Bertha hätte den Hefezopf natürlich anders zubereitet als Oma Else, die Eier ganz anders eingefärbt und den Eierlikör schon viel früher angesetzt, Mama Lenas Kartoffelsalat ohne Speck gemacht, die Bettwäsche mit Chlor gebleicht und die Tischdecken……  und so nervte sie von morgens bis abends alle, die nicht schnell genug aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, mit ihren gut gemeinten Ratschlägen.

Während sie pausenlos ihren Senf zu allem gab, amüsierten sich die Männer beim Skatspielen, Biertrinken und der Lustigste war Onkel Hans, der die Stunden ohne seine Bertha sehr genoss.

Der frühe Vogel kann mich mal

Dann kam der Ostersonntag. Feiertag. Schulfrei. Ferien. Ausschlafen. Aber nicht bei uns! Papa war generell der Prototyp eines Frühaufstehers, an Sonn- und Feiertagen besonders gerne und an Ostern sowieso. Damals gab’s keine Sommerzeit – nur Normalzeit. Allerdings fanden wir es keineswegs normal, dass Papa Karl uns früh um sechs Uhr lautstark aus süßen Träumen riss, bloß um mal nachzusehen, ob der Osterhase schon da war!

Was habe ich den Osterhasen gehasst – dem habe ich jedes Jahr von neuem die Pest ans Fell gewünscht! Meinetwegen hätte es ihn überhaupt nicht geben müssen, denn ich mochte weder hartgekochte noch Schokoladeneier und früh aufstehen schon gar nicht!

Da meine Abneigung hinsichtlich der Hinterlassenschaften von Meister Lampe allzu gut bekannt waren, suchte Papa Karl alljährlich alleine nach Nestern, die von ihm selbst in dunkler Nacht zuvor versteckt wurden. Im blauweiß gestreiften Schlafanzug robbte er vergnügt wie ein Dreijähriger auf allen Vieren durchs Wohnzimmer. Im Schlepptau hatte er immer Mamas Einkaufskorb und darin sammelte er die Osternester mit den buntbemalten Hühnereiern, den Schokoeiern mit Füllungen aus Knickebein, Marzipan und Nugat und den goldenen Osterhasen aus Vollmilchschokolade mit Schleife und Glöckchen um den Hals. Papa freute sich wie Bolle über jeden Fund, Mama und ich saßen gähnend auf der Couch und hofften, dass das Suchspiel bald ein Ende hat und wir nochmal für eine Weile ins Bett huschen konnten.

Draußen zwitscherten die Vögel, die Sonne strahlte vom blauen Himmel und Kaffeeduft durchzog die Wohnung. Genau richtig, um im Garten nachzusehen, ob Meister Schlappohr auch dort fleißig was versteckt hat. Papa fand seinen Vorschlag großartig und bevor wir uns versahen, war er bereits am Schuhe zubinden!

Ei-ei-ei am Tapeziertisch

Opa Franz trafen wir im Schlafrock an, und zwar am Briefkasten, wo zufälligerweise auch die Nachbarin Frau Bärbel im Morgenmantel nach ihrer Zeitung Ausschau hielt. Meine Eltern sahen sich grinsend an und stellten süffisant fest: „Ob die wohl schon Eier gesucht haben?“

Papa stöberte alle Verstecke des Hoppelhasen auf, Opa suchte frische Eier im Hühnerstall und Mama kochte Kaffee, Frühstückseier und deckte den Tisch richtig österlich. Schon bald trudelten die ersten Besucher ein – die meisten unangemeldet, wie immer bei schönstem Gartenwetter. Zwischen Frühstück und Kaffeetrinken wurde es voll und Papa pumpte sich bei Nachbars Gartenstühle, während Opa Franz gemeinsam mit seinem Bruder Hans zwei große Tapeziertische aufstellte.

Die Stimmung im österlichen Freiluft-Kaffee-Klebearsch stieg, die Temperaturen, der Geräusche- und Alkoholpegel ebenfalls. Abends hatten die Kinder Bauchweh von allen Süßigkeiten und die Erwachsenen am nächsten Tag Kopfschmerzen vom Hochprozentigen. Am Ende des zweiten Osterfeiertages, nach dem Klarschiffmachen und dem Resteessen der kommenden Tage wurde der Gürtel enger geschnallt.

Erst zu Pfingsten waren die nächsten kalorienreichen Feiertage – dann mit frischer Erdbeer-Bowle und Erdbeerkuchen – in Sicht und bis dahin war Schmalhans Küchenmeister.

09.04.2019