Endlich, Ostern ist vorbei, Papa Karl bewegt sich wieder auf zwei Beinen und ohne Schlafanzug durch die Weltgeschichte, der Besuch hat auch das Weite gesucht, das Wetter wird täglich besser und die Gartensaison ist da.
Das ist der Zeitpunkt, zu dem Mama Lena und Oma Else ihre Startlöcher verlassen, gen Erdbeerbeete sprinten und natürlich den Spargel voll im Blick haben. Sie häufeln ihn an. Muss sein, sonst kann er nicht schießen, sagen sie. Und wenn’s nachts kalt wird, bedecken sie ihn mit aufgeschnittenen und rundgebogenen Marmeladeneimern, denen der Boden fehlt.
Die Kartoffeln stehen ziemlich gut, stellt Opa Franz fest und wenn das so weitergeht, gibt’s bald neue Kartoffeln mit frischem Spargel auf den Teller und mit viel Glück die ersten Erdbeeren zum Dessert.
Um diese Jahreszeit gibt‘s viel zu tun, und zwar viel zu viel und jede helfende Hand ist ein Gewinn. Dummerweise war das mit der Helferei nicht so mein Ding, denn ich hatte selbst wahnsinnig viel zu erledigen. Ich musste für die Schule lernen, manchmal nachsitzen, hatte in der Tanz- und Theatergruppe meine Auftritte, musste regelmäßig zum Schwimmtraining, mein Fahrrad putzen, mein Zimmer aufräumen, meine kranke Freundin Evi besuchen und manchmal auch für die alte Frau Müller aus dem Nachbarhaus einkaufen gehen.
Jedes Jahr hatte Mama Lena einen Frühlings-Kreativ-Schub, wie Papa Karl das nannte. Immer kamen ihr neue Ideen, was man hier und da im Garten verändern und verbessern konnte. Als zum Beispiel der dicke alte Pflaumenbaum der Kreissäge zum Opfer fallen sollte, weil er drohte, teilweise mit seinen morschen Ästen die Dachziegel des Hauses zu zerstören, hatte Mama Lena selbstverständlich eine Eingebung.
„Sägt ihn mal auf Esstischhöhe ab und dann machen wir auf den Stamm eine schöne große Tischplatte rauf und ringsherum säen wir Rasen aus und dann haben wir in null Komma nix eine neue Sitzecke!“
Karl, Franz und die Säge taten genau wie Madame gewünscht. Der Tisch war klasse! Aber irgendwas fehlt noch, grübelte Mama Lena. Während rund um und unter dem Stamm-Tisch das frische Grün sprießte, kam ihr die zündende Idee. Mittig in die Tischplatte muss ein Loch für einen Blumentopf gesägt werden. Papa Karl fand diese Idee aufwendig und doof und schimpfte wie ein Rohrspatz. Opa Franz hingegen führte sie ohne zu murren und zu knurren aus und diese neue Sitzecke war der Hingucker der Saison, von dem alle ausnahmslos begeistert waren – außer eine!
Die eine war Tante Gertrud, Mama Lenas große Schwester. Klar, dass die was zu meckern hat. Hat sie nämlich immer. Gute Ideen kommen ausschließlich von ihr, denn schließlich ist sie die Ältere und Klügere, behauptet sie! „Da kann man ja nicht mal ne weiße Tischdecke rauflegen – der dusslige Blumentopp in der Mitte stört doch total“ brabbelte sie für alle hörbar vor sich hin. Allerdings nahm es in der fröhlichen Runde niemand zur Kenntnis, alle machten sich mit bestem Appetit über den Erdbeerkuchen her. Tantchen langte übrigens dreimal zu und alle anderen mussten sich ranhalten, noch was abzubekommen.
Knüppelkunze und Ehefrau Elfriede
Die Männer spielten Karten und in der heutigen Runde verlief alles lustig und feuchtfröhlich. Papa verlor so ziemlich jedes Spiel, Nachbar Paul war gutes Mittelmaß und Papas Freund und Arbeitskollege Knüppelkunze wurde Tagessieger.
Knüppelkunze hieß so. Er hatte weder Vor- noch Nachnamen. Wurde scheinbar auf diesen Namen getauft, und zwar mit Gesundbrunnenwasser. Alle mochten ihn und seine Frau Elfriede – beide Weddinger Urgesteine. Wenn beide einen geschnasselt hatten, trugen sie Alt-Berliner Lieder im Duett und zur Begeisterung aller Zuhörer vor.
Trotzdem waren beide im Grunde ihres Herzens tieftraurige Menschen, denn sie waren Opfer des Mauerbaus im August 1961.
Der älteste Sohn war Busfahrer bei der BVG und am Samstag vorm Mauerbau hatte er dienstfrei und besuchte seine Verlobte in Pankow. Er blieb über Nacht bei ihr und somit nicht mehr rechtzeitig nach West-Berlin zurück.
Der jüngere Sohn machte mit seiner Frau im August 1961 Urlaub am Müggelsee und auch sie kamen nicht mehr aus den Ferien in den Westen zurück.
Knüppelkunze und Elfriede litten wie die Tiere unter der Situation und als man ihnen die Passierscheine – also die Einreise nach Ostberlin – verwehrte, waren sie gebrochene Menschen. Der Grund des Einreiseverbotes lag an den Eltern der Schwiegertochter, die zum höchsten SED-Kader gehörten.
So wie es diese beiden Menschen traf, traf es viele tausend andere auch. Der Mauerbau am 13. August 1961 riss Familien, Freundschaften, Liebschaften und Kollegenkreise für Jahrzehnte auseinander. Pech für all die Menschen, die zur falschen Zeit auf der falschen Seite Berlins waren.
Familie Werner
Paul und Helga Werner waren unsere direkten Nachbarn und mit meinen Eltern befreundet. Gabi und Christine waren ihre Töchter. Gabi, die ältere, war klug, Christine nur hübsch. Christine ging mit mir in eine Klasse, Gabi bereits zum Gymnasium.
Paul war gebürtig aus Bitterfeld, Werkstattmeister einer großen Gießerei, ein Gigolo und ein Fremdgeher vor dem Herrn – so tuschelte man. Leider wusste ich nicht, was das bedeutet, aber da es nur hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde, musste es was Schlimmes sein.
Helga kam aus gutem Hause, hatte eine exzellente Schulbildung, wurde dann aber viel zu früh schwanger und deshalb nun seit einigen Jahren nur bei Siemens in der Fabrik beschäftigt.
Papa Karl und Mama Lena feierten oft und gerne mit Paul und Helga. Dann wurde getanzt, gesungen, gelacht und wir Mädels durften meist bis in die Puppen aufbleiben und dem geselligen Treiben beiwohnen. Das sicherte den Erwachsenen auf jeden Fall das Ausschlafen am nächsten Morgen.
Der Mai ist gekommen
Der Tanz i den Mai war das Tanzvergnügen schlechthin. Alljährlich am 30. April hübschte Mama Lena sich so richtig auf, denn da fand das Betriebsfest von Papas Firma statt. Papa Karls guter Anzug und ein weißes Hemd hingen frisch aufgebügelt an Schlafzimmerschrank, so dass er nach der Arbeit und dem Duschen gleich reinschlüpfen konnte. Dann stürzten sich beide gutgelaunt in die Walpurgisnacht und den Tanz in den Mai und kamen ziemlich angetütert erst kurz vor Sonnenaufgang wieder heim.
Trotzdem war Papa vormittags schon wieder so fit, um zur Mai-Kundgebung zu gehen. Dort traf er die anderen Kollegen, die ebenfalls kräftig gefeiert und das Tanzbein geschwungen hatten. Trotz Kopfweh fehlte niemand, denn keiner wollte schließlich auf das Mai-Geld in bar verzichten.
Nach der offiziellen Veranstaltung ging es in unserem Garten weiter mit Tanz, Frohsinn und guter Laune, Kartoffelsalat und Würstchen und anderen Leckerbissen, die Oma Else vorbereitet hatte.
Meist kam Opa Otto auch dazu, sang mit seiner Bariton-Stimme das Lied vom Pferdehalfter an der Wand, die aktuellen Freddy-Quinn-Schlager und die fröhlichen Melodien über Italien und das Verreisen kamen aus dem Radio.
Der erste Mai war jedenfalls immer der echte Beginn der Gartensaison mit ganz viel Vorfreude auf einen tollen Sommer, mit hoffentlich viel Obst und Gemüse, wenigen Mückenstichen, Planschen unterm Gartenschlauch, Sonnenschein, Gewitterregen und allem, was sonst noch so dazugehört.
02.05.2019