Da trau ich doch kaum meinen Augen. Kurz nach sieben Uhr am Morgen sitzt Tigi am Laptop und tippt wie wild.
„Ich entwerfe – ach was, ich kreiere – ein Flugblatt – einen Flyer für Gerda.“
„Ach, will sie Werbung für ihre Flugschule machen? Neulich hatte ich es so verstanden, dass sie schon genug Aufträge hat und bis Heiligabend ihr Terminkalender keine Lücke mehr aufweist.“
„Ja, stimmt auch. Aber das ist ja gerade das Problem“ und dann erzählt Tigi, warum unbedingt ein Flugblatt her muss.
„Gerda hat es mit den Augen. Manchmal sieht sie sehr schlecht, besonders in den Morgen- und Abendstunden, wenn das Licht manchmal so schwummerig ist. Da gab es neulich einen Crash zwischen den Fledermäusen und den Rotkehlchen. Die Rotkehlchen waren Gerdas Flugschüler und die ganze Korona ist in eine Fledermauskolonie rein gekachelt und alle Beteiligten haben ziemliche Blessuren davon getragen und Federn gelassen. Die Eltern der Rotkehlchen waren stinksauer und haben gleich Kontakt zur Flugüberwachung am Krähenhorst aufgenommen und natürlich auch die Eltern anderer Flugschüler informiert. Die Blau-, Kohl- und was weiß ich noch für Meisenfamilien haben gemeinsam mit den Bunt- und Schwarzspechteltern gefordert, Gerda zum Sehtest zu schicken und sie wollen alle ihre Zertifikate mal genauer unter die Lupe zu nehmen.“
„Und was haben die Fledermäuse gemacht? Gab es da auch Ärger von offizieller Seite?“ frage ich Tigi.
„Nö, von denen haben wir noch nichts gehört. Die schlafen tagsüber immer und wenn die zu irgendeinem Amt fliegen, denn ist da immer schon geschlossen. Der Uhu leitet nicht mehr die Nachtaufsicht in der zentralen Beschwerdestelle der Flugüberwachung- und sicherung und die Eule lässt sich gerade ihre Schlupflider liften und macht dann eine ausgiebige Reha in irgendeinem Adlerhorst auf dem Brocken oder im Adlergestell, kurz vorm neuen Flughafen in Berlin.“
„Okay, ich verstehe, aber warum braucht Gerda jetzt ein Flugblatt? Damit kann sie doch auch nicht besser kucken!“
„Man, das Flugblatt ist sowas wie ein Navi. Auf dem Flugblatt sind die Flugrouten eingezeichnet. Also da steht denn, dass sie zum Beispiel am Leuchtturm rechts rum muss, an der Laterne links und wenn sie zur Ahornallee kommt, dann immer geradeaus. Verstehst du es jetzt? Außerdem sind alle Flugrouten mit dem Amtsleiter von Krähenhorst und auch mit der Fledermausorganisation Nachtschwärmer abgesprochen.“
„Da ist doch noch was. An deiner zuckenden Schwanzspitze sehe ich, dass du nicht alles erzählt hast.“
„Hmmm, hast recht, da ist noch was! Gerda fehlt es generell an Orientierung. Eigentlich weiß die nie, wo sie ist und meistens findet sie nicht wieder nach Hause. Oft mussten wir sie schon suchen und manchmal ruft sie an und irgendeiner von uns holt sie dann ab. Ich habe aber schon eine Lösung dafür gefunden. Also da gibt es doch die Familie Elster, die von geraderüber. Die kommen ursprünglich aus Bad Elster und sind vor gut zwei Jahren hierher gezogen.“
„Ach die aus Sachsen mit dem komischen Dialekt. Die Uta Elster hat doch bei den Müllers Goldschmuck geklaut und sitzt seit längerer Zeit hinter Gittern, oder? Der älteste Sohn ist auch vorbestraft, der hat beim Juwelier Goldstein Silbermünzen mitgehen lassen. Mensch Tigi, halt dich bloß von den Kriminellen fern, da kannste schnell in was reinrutschen…!“
„Nee, mach dir mal keine Sorgen, der Sigi Elster ist ein astreiner Typ. Der hat Ordnungssinn und ist ein echter Kontrolletti. Tagsüber fliegt er durch die Gegend und sammelt Schmuck ein, den Leute auf der Fensterbank oder im Garten am Pool vergessen haben. Und nachts geht er immer auf Streife und kuckt in die Autos, ob da Navis drin liegen und wenn er eins findet, dann nimmt er das mit nach Hause, bevor irgendein Ganove es stibitzt. Ein Navi will er direkt für Gerda umbauen. Dann findet sie immer nach Hause und solche Crashs sind Schnee von gestern. Ist doch toll – oder? Und kosten tut das nüscht, Sigi will keinen einzigen Euro. Ab und an soll sie lediglich für ihn ein paar Besorgungen machen. Vielleicht mal zum Münzhändler fliegen und ein paar Münzen abholen, oder beim Goldschmied kleine Klumpen in der Werkstatt aufpicken und mitbringen. Eben kleine Gefälligkeiten erledigen, weil sie ohnehin unterwegs ist. Das Navi ist so programmiert, dass Sigi sie lenken und leiten kann und Gerda kann mit diesem Navi um den Hals nicht mehr verloren gehen.“
Als ich zum Handy greife, um meinen Mann anzurufen, fragt mich Tigi: „Du sag mal, warum haben Elstern eigentlich keine Freunde und warum nennen manche sie diebische Elstern? Die sehen mit ihrem schwarz-weißen Gefieder doch so hübsch und adrett aus!“