Gottesdienst am Heiligabend in der Paul-Gerhardt-Gemeinde
Um halb drei soll der Gottesdienst mit Krippenspiel beginnen und da jeder weiß, dass Heiligabend und an den Weihnachtstagen die Kirchen voll sind, bin ich kurz nach vierzehn Uhr in der kleinen Kirche meiner Gemeinde. Am Eingang stehen drei große Pappkartons mit Apfelsinen, Mandarinen und rotbackigen Äpfeln. Buntbemalte Plakate laden den Besucher ein, beim Verlassen der Kirche zum Obst zu greifen.
Die Kirche ist bereits gut gefüllt, nur wenige freie Stühle und Bänke stehen noch zur Auswahl. Ich setze mich auf einen Stuhl der am Ende einer der hinteren Reihen steht. Vorher nehme ich den gelben Flyer vom Stuhl, auf dem die Liedertexte stehen. Dann lasse ich meinen Blick schweifen. Der Altar ist dürftig und schlicht geschmückt und der Weihnachtsbaum keineswegs ein Prachtexemplar seiner Zunft. Das noch einfließende Tageslicht läßt den Christbaum im Gegenlicht noch unvorteilhafter aussehen und der Baumschmuck wirkt etwas verloren. Noch springt keine weihnachtliche Stimmung auf mich über, kommt aber bestimmt noch.
Um den Altar ist ein Bühnenbild aufgebaut, das zwei Schiffe darstellt. Auf dem einen Bug kann ich den Namen „MS Europa“ lesen und dieses Schiff gleicht dem eines Luxusdampfers. Das andere Schiff ist eindeutig als abgewrackter Seelenverkäufer zu identifizieren, dessen düstere Farbe Böses ahnen läßt. Einigen Kindern und Jugendlichen ist das Lampenfieber vor der Aufführung ins geschminkte Gesicht geschrieben und aufgeregt üben sie ihre Texte, wiederholen die Stichworte, auf die sie bei ihrem Einsatz achten müssen, zupfen ihre Garderobe zurecht und wuseln aufgeregt von hier nach da und umgekehrt.
Das Publikum um mich herum ist sehr gemischt – kleine Kinder mit den Eltern oder Großeltern, alte Leute, die alleine sind, ebenso alte und junge Paare, Pärchen in den Zwanzigern – vom Baby im Kinderwagen bis zum Greis im Rollstuhl ist alles vertreten. Die Viele Besucher unterhalten sich laut, Kinder toben schreiend durch die Kirche und ich bin gespannt, wie sich die junge Pastorin in dieser quirligen und lauten Menge Gehör verschaffen wird.
Um 14:30 Uhr läutet die kleine Glocke und die Kirche ist völlig überfüllt und hinten und an den Seiten stehen die Gottesdienstbesucher dicht an dicht.
Die Pastorin – Mitte dreißig, lange, blonde Haare, schlank – tritt vor den Altar und bittet um Ruhe und es dauert eine kleine Weile, bis das Murmeln verstummt. Sie begrüßt die Gemeinde und erläutert den Ablauf der Andacht und des Weihnachtsspiels. Die Orgel ertönt und gemeinsam singen alle „Vom Himmel hoch da komm’ ich her“. Nach weiteren Worten der Pastorin bittet sie Frau Elfie Müller zum Altar, die nun die zweiundzwanzig Verse aus dem Lukas-Evangelium vorlesen wird. Elfie Müller ist pummelig, sehr leger und in mausgrau gekleidet, hat kurze dunkle Haare und altersmäßig vermutlich zwischen vierzig und fünfzig. „Und es begab sich zu der Zeit…..“ beginnt Frau Elfie und ihre Stimme ist zum Vorlesen absolut ungeeignet. Sie leiert den Text runter und ich habe Mühe, dem eintönigen Singsang zu folgen. Ein Augenschmaus ist das junge Paar neben mir. Sie halten sich an den Händen, wechseln verliebte Blicke und verstohlen küssen sie sich ab und zu.
Im Anschluss an die Weihnachtsgeschichte folgt ein Gebet, das teils die Pastorin spricht und teils die anwesende Gemeinde vom Zettel abliest und danach wird ein Weihnachtslied angestimmt, von dem ich weder die Melodie kenne, noch den abgedruckten Text. Zu meiner Überraschung geht es aber auch anderen Anwesenden ähnlich und als die Orgel ertönt, singen nur wenige mit. In der Reihe vor mir basteln Kinder zum Ärger ihrer Eltern aus den gelben Zetteln flugunfähige Papiertauben, die dann nach dem Absturz wieder aufgesammelt werden und das geht leider nicht ohne Stühlescharren vonstatten.
Endlich kündigt Frau Pastorin das Weihnachtsspiel an, das überhaupt nicht mit dem herkömmlichen Krippenspiel zu vergleichen ist. Die Geschichte hat das musisch begabte Gemeindemitglied Klaus Berger geschrieben und es auch mit den Kindern eingeübt und sein Bruder Günter werkelte das Bühnenbild nach Feierabend.
Nun kommt Leben in die Dekoration der „MS Europa“. Ein smarter pubertärer Jüngling unterhält sich mit seiner Bühnenpartnerin. Das Mädchen ist mindestens einen Kopf größer als er. Beide sind sehr festlich gekleidet, wie es sich eben für ein feudales Kreuzfahrtschiff gehört. Ihr Gespräch dreht sich um Geld und Ruhm und ihr Ansehen in der High Society und auch darum, dass Kinder in einer Ehe nur störend sind und Geld, Zeit und Nerven kosten.
Ein weiteres Pärchen gesellt sich hinzu. Beide sind einfach gekleidet, sie ist schwanger und sie sprechen mit sächsischem Akzent, haben eine Tochter im Teenageralter und einen kleinen Sohn. Sie können sich nichts leisten, was außer der Reihe ist und nicht schon in der Überfahrt enthalten. Und das war schon ein besonderer Kraftakt, das Geld für die Passage zusammen zu sparen. Die Kinder quengeln, wollen dies und das und zupfen den Eltern an der Jacke, an der Hose und betteln um ein paar Münzen. Gerne würden sie ihren Sprösslingen was geben, aber das Budget reicht vorne und hinten nicht und schließlich wissen die Eltern noch nicht, ob alles glatt geht, oder ob die paar Euro noch für andere Dinge herhalten müssen.
Beide Pärchen kommen miteinander ins Gespräch. Schon bald stellt das gut situierte Pärchen fest, dass die armen Mitreisenden mit den Kindern vom Schicksal arg gebeutelt sind. Sie sind mit all ihrem Hab und Gut auf dem Schiff und wollen in der Fremde ein neues Leben anfangen. Sie hoffen auf Arbeit, ein bisschen Glück und ein besseres Leben als in der verlassenen Heimat. Vor allem sollen die Kids es besser haben, Schulbildung erlangen, Berufe ergreifen, die lukrativ sind und ihnen gesellschaftliche Stellung bringen.
Die beiden festlich Gekleideten schauen beschämt und laden spontan die vier Reisenden aus Sachsen ein, an ihren Tisch zu kommen, mit ihnen zu essen, den Abend zu verbringen und fröhlich zu sein. Schnell werden vom Personal Stühle herangeschafft, damit die Kinder Platz finden und die schauen mit großen Kulleraugen auf die Leckereien, die mittlerweile auf der festlich gedeckten Tafel aufgebaut sind. Sie alle genießen den Abend gemeinsam und freunden sich an und sie wollen auch die verbleibenden Tage auf dem Kreuzfahrtschiff miteinander verbringen.
In der Kirche ist es nun mucksmäuschenstill und man könnte eine Stecknadel fallen hören. Alle großen und kleinen Gottesdienstbesucher sind von der rührenden Geschichte ergriffen und alle hoffen gespannt auf noch mehr Schönes und Ergreifendes, was sich auf der „MS Europa“ vor ihren Augen abspielt.
Doch da tritt die Pastorin ganz leise zu den Schauspielern und vor die Gemeinde. Sie bittet nun alle Gottesdienstbesucher noch ein wenig innezuhalten, bevor sie wieder in die Hektik des Heiligabends und in ihre eigenen vier Wände enteilen. Sie ermuntert die Anwesenden, den weiteren Verlauf dieser Geschichte sich selbst vorzustellen, auszumalen, wie sie weiter gehen könnte, ja wie sie gar endet.
Noch immer ist es sehr leise, selbst die Kleinsten halten inne, schreien und brabbeln nicht. Irgendwie ist die Kirche wie mit einem seltsamen Zauber belegt und noch immer ist es still. Bis sich dann die Pastorin wieder zu Wort meldet und das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ anstimmt und alle singen mit. Danach erteilt sie den Segen und wie im Zeitlupentempo erwachen die Anwesenden aus der andächtigen Stille. Ich habe den Eindruck, dass es allen gut getan hat und wenn ich mich nicht irre, spielt bei fast allen Gottesdienstteilnehmern ein kleines Lächeln um die Mundwinkel. Völlig ruhig und entspannt verlassen wir alle die Kirche. Kein Gedrängel, keine Hektik, kein lautes Wort.
Bei mir wirkt der Zauber noch ganz lange nach und ich bin richtig froh, an diesem Heiligabend genau an diesem Ort gewesen zu sein.
Dezember 2005